„Heute hat niemand mehr was gegen Juden“

Der Antisemitismus ist eine Verschwörungstheorie, die in den letzten Jahrhunderten und auch in den letzten Jahrzehnten immer wieder ihre Erscheinungsform, ihre Argumente und ihre Anschuldigungen verändert hat. Eines ist jedoch konstant geblieben: der mehr oder weniger offene Schlachtruf „Die Juden sind schuld!“ und die damit legitimierte Ermordung von Juden nur aus dem Grund, weil sie Juden sind.

Antisemitismus im Wandel der Zeit

Der vornazistische Antisemitismus lässt sich grob in zwei Epochen einteilen: den mittelalterlichen, christlich motivierten Antijudaismus, vorherrschend bis Mitte des 19. Jahrhunderts, und den modernen Antisemitismus, der etwa ab Anfang des 19. Jahrhunderts anzutreffen ist. Beiden gemeinsam ist, dass sie jeweils die Juden für die Verursacher der großen Katastrophen und Ängste ihrer Zeit erklären: im Mittelalter sollen die Juden die Pest über die europäischen Gesellschaften gebracht haben, in der Neuzeit werden die Juden von den Linken für den Kapitalismus, von den Rechten für den Liberalismus sowie den Kommunismus und von den religiösen Christen für den Atheismus verantwortlich gemacht.

Antisemitismus ist der Wahn vom “mächtigen Juden”

Antisemitismus erfüllt eine andere Funktion als “üblicher” Rassismus (wenn dieser auch oft nicht weniger gefährlich ist): er ist ein Welterklärungsmodell. Mit dem Rassismus gemein hat er, dass die eigene Gruppe (meist die Mehrheitsgesellschaft) aufgewertet, im Kontast zu “den Anderen” als gut und rechtschaffen dargestellt wird. Das besondere am Antisemitismus ist jedoch, dass er meist einhergeht mit einem Unterlegenheitsgefühl gegenüber “den Juden” und ihren “geheimen Mächten”. Dies erklärt die zentrale Rolle, die “den Juden” in vielen Verschwörungstheorien angedichtet wird. Zum Beispiel heißt es, “die Juden” hätten den Holocaust erfunden oder zumindest übertrieben, um die Deutschen zu erpressen; “die Israelis” würden die Politik der USA diktieren; “die Juden” wäre die wahren Drahtzieher hinter den Anschlägen des 11. September; “die Juden” würden über die Macht der Medien und der großen Konzerne verfügen und diese ausnutzen, um den Rest der Menschheit auszubeuten und so weiter. Die wahnhafte Angst, das Unterlegenheitsgefühl gegenüber “den mächtigen Juden” bildet den gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem solche Verschwörungstheorien geglaubt werden. Dies ist die Konstante, die den Antijudaismus mit dem modernen Antisemitismus verbindet und ihn so gefährlich macht.

Das heißt:

  1. Der Antisemitismus wandelt sich im Laufe der Zeit, er passt sich neuen Gesellschaftsmodellen und Realitäten an.
  2. Er ist eine gesellschaftliche Konstante in der älteren und auch in der neueren bis neuesten Geschichte.
  3. Er ist unabhängig vom Verhalten der Juden selbst.
  4. Der Antisemitismus ist kein Problem der Juden, sondern der gesellschaftliche Wahn vom “mächtigen Juden”. Dieser Wahn hat sich als extrem resistent gegenüber Fakten und Argumenten gezeigt, er hat verschiedenste gesellschaftliche Herrschaftsformen und Lebensentwürfe überdauert.

Antisemitismus geht uns alle an

Deswegen ist es an uns, unsere Meinungen und die unserer Umgebung daraufhin zu prüfen, ob nicht doch Teile dieses Wahns auch unsere Meinung und unser Weltbild mitprägen. Kennst Du nicht auch jemanden, der behauptet, die Juden hätten sich in „Deutschland damals zu viel herausgenommen“ und daher den Holocaust selbst mit zu verantworten, die Juden würden ständig Kapital schlagen aus der Schuld der Deutschen, der Staat der Juden (also Israel) und „seine Lobby“ würden die Weltmächte Europa und USA beherrschen? Sich selbst und seine Umgebung auf den Wahn Antisemitismus hin abzutasten muss der erste Schritt zu seiner Bekämpfung sein.

Weiterführende Informationen

Links

Judenhass heute
Kurzvideo bis Min 1.10, “BrainFed”, Youtube

Antisemitismus heute - Wie judenfeindlich ist Deutschland?
TV-Dokumentation aus 2013, 44 Minuten, Youtube

Was ist Antisemitismus?
Text der Amadeu-Antonio-Stiftung, 2015

Buchtipp

Henryk Broder: Der ewige Antisemit (1986)

Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? (2011)