Bilanz: 10 Jahre nach der Abschiebung - ein Brief

Der Kurde Mazlum Çelik wurde vor 10 Jahren abgeschoben, von der jetzigen saarländischen Ministerpräsidentin. In einem Brief zieht er Bilanz.

Pressemitteilung des Saarländischen Flüchtlingsrates

Saarlouis, 28.12.2011

"Die Erfahrung selbst und sogar die Geschichten, die aus dem Zusammenhandeln der Menschen natürlicherweise entstehen, fallen der gleichen Vergänglichkeit anheim, die das Schicksal des lebendigen Worts und der lebendigen Tat ist, es sei denn, sie werden wieder und wieder besprochen." Hannah Arendt

Gegen das Vergessen.

Saarländischer Flüchtlingsrat veröffentlicht einen Brief von Mazlum Çelik, der vor rund 10 Jahren mit seiner ganzen Familie aus dem Saarland abgeschoben wurde.

Verantwortlich war damals die heutige Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer.

Abschiebungen sind unmenschlich. Abschiebungen sind traumatisierend. Abschiebungen reißen Menschen immer aus ihren Lebenszusammenhängen. Betroffen sind diejenigen, die durch ihre Flucht oder durch die Umstände ihrer Flucht entwurzelt und oft traumatisiert sind.

Abschiebungen sind Alltag in Deutschland und ein wesentlicher Bestandteil hiesiger Flüchtlingspolitik. Abschiebungen funktionieren, weil Politiker, Ausländerbehörden und Polizei meinen, sie hätten nach Recht und Gesetz gehandelt.

Der Saarländische Flüchtlingsrat hat jetzt auf seiner Webseite einen Brief von Mazlum Çelik veröffentlicht, den der Verein kurz vor Weihnachten aus der Türkei erhalten hat. In diesem Brief schildert Mazlum Çelik seine positive Erinnerung an die Zeit in Deutschland und die vielfältigen Probleme, die er bis heute als "deutscher Kurde" in seinem Leben in der Türkei hat. An dem was Mazlum Çelik beschreibt, wird das ganze Desaster der saarländischen Flüchtlings- und Abschiebepolitik deutlich.

Die Abschiebung der Familie Çelik in die Türkei war seinerzeit einer der Impulse, warum sich 2003 der Saarländische Flüchtlingsrat gründete.

Den vollständigen Brief finden Sie hier: <link www.asyl-saar.de - external-link-new-window>

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Rückfragen und Kontakt zum Unterstützerkreis der Familie Çelik: Familie Bies in Gerlfangen: 06833-777


Zum Hintergrund:

Am 5. September 2002 wurde die sechsköpfige kurdische Familie Çelik, die 10 Jahre im Ortsteil Gerlfangen der Gemeinde Rehlingen-Siersburg gelebt hatte, in einer dramatischen Aktion durch ein großes Polizeiaufgebot zwischen 4 und 5 Uhr morgens abgeführt und nach Frankfurt zum Flug nach Ankara verbracht. Das Schlimme an dieser Abschiebung war nicht nur die Art und Weise der Polizeiaktion, sondern vor allem die Tatsache, dass die Kinder alle bis auf Mesut, den Ältesten, in Deutschland geboren wurden. Und Mesut fing gerade erst zu sprechen an, als er zweijährig nach Deutschland kam.

Große Teile der Bevölkerung des Dorfes Gerlfangen, in dem die Familie 10 Jahre gelebt hat und gut integriert war, waren damals entsetzt und erbost über die von der damaligen Innenministerin Kramp-Karrenbauer veranlasste Abschiebung. Viele von Ihnen protestierten gegen diese Abschiebung und gründeten einen Unterstützerkreis zur Rückkehr der Familie Çelik, der bis heute den Kontakt zur Familie aufrecht erhält. Der Unterstützerkreis ist auch Gründungsmitglied des Saarländischen Flüchtlingsrates.

Frau Çelik wurde von deutschen Gerichten nicht als politischer Flüchtling anerkannt, obwohl sie bereits als 16-Jährige im türkisch-kurdischen Bürgerkrieg gefoltert wurde. Ihr Vater hatte aufständische Kurden bewirtet, deren Namen die Folterer von ihr erfahren
wollten. Diese Tatsache fand in ihrem Asylverfahren allerdings keine Berücksichtigung. Einerseits, weil der Dolmetscher Frau Çelik in der ersten Anhörung vor Gericht anherrschte, "dies (die Folterung) gehöre nicht hierher" und andererseits hatte der erste Anwalt der Familie es leider versäumt, die Folterung aktenkundig zu machen.

Hinzu kam ein juristisches Vergehen, das in einer Namensfälschung und der Beschaffung falscher Personalpapiere bestand, weil Frau Çelik, die gerade zum zweiten Mal schwanger war, der Weisung der Ausländerbehörde nicht folgen wollte, in eines der neuen Bundesländer umzusiedeln. Die Familie hatte Angst vor rassistischen Übergriffe, wie sie dort bis heute an der Tagesordnung sind.

Mehr Infos unter: <link www.asyl-saar.de/schicksale.html - external-link-new-window>

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Der Brief von Mazlum Çelik

Ich begrüße euch alle und hoffe, dass ihr wohlauf seid! Ich schreibe einen Bericht für Deutschland wegen der Gerechtigkeit für Kinder. Was man in Deutschland so oft gehört hat.
Ich bin MAZLUM ÇELIK, am 02.02.1992 in Coesfeld auf die Welt gekommen, das zweite Kind der Familie Çelik. Ich habe im Dorf Gerlfangen (PLZ: 66780) im Saarland gelebt, aber  nur, bis ich 10 Jahre alt war, dann wurde die Familie abgeschoben. Warum - weiß ich bis heute nicht. Was habe ich denn falsch gemacht? Ich hatte keine Schuld daran, dass wir in die Türkei abgeschoben wurden. Ich konnte kein Wort Türkisch,  ich wusste nicht einmal, wo das Land liegt. Meine Eltern sprachen über das Thema Abschiebung in die Türkei, ich glaubte nicht, dass so etwas passiert. Ich ging noch in die Grundschule, war noch klein, hatte gute Freunde, vor allem einen guten Kumpel, den Philipp S. Wir spielten immer
zusammen Fußball im Verein SV Gerlfangen-Fürweiler. Ich war der Kapitän der Mannschaft. Ich war  donnerstagnachmittags bei Philipp, wir schrieben unsere Hausaufgaben für die Schule. Als wir mit den Hausaufgaben fertig  waren musste, ich nach Hause. Ich bekam auf einmal Angst, dass wir heute abgeschoben werden könnten.  Ich wollte Philipp fragen, ob ich bei ihm bleiben kann, weil ich nicht nach Hause gehen wollte. Aber ich habe ihn nicht gefragt. Ich ging nach Hause. Und ausgerechnet in dieser Nacht wurden wir in die  Türkei abgeschoben. Ich hatte meine Schule fertig machen wollen, in die Universität gehen und
einen guten Beruf haben. Aber leider bin ich in der Türkei. Obwohl ich keine Schuld daran hatte, ich war klein, ich wusste nicht, was später passiert im Leben. Ich habe viele Freunde verloren: Meinen Schuldirektor, Herrn Müller, meinen Lehrer, die Familie Bies, die Familie Schellenbach.
Ich meinte, dass alles nur eine Lüge ist, was mit mir passiert ist. Nach dem langen Flug in die Türkei holten uns ein  paar Bekannte ab. Ich dachte, dass wir in Afrika sind. Wir hatten Angst, weil alles so fremd war. Mein Vater wollte uns in der Schule anmelden. Die Schulen wollten uns eigentlich nicht, weil wir kein türkisch konnten. Die Schüler schauten uns alle an .Ich musste mit der 4. Klasse anfangen mit  keinem Wort Türkisch. Ich kannte keinen. Mein Vater kam ein paar Mal mit in die Schule, dann nicht mehr. Ich kannte den Weg zur Schule. Ich ging in die Schule mit meinen Geschwistern. Die Kinder von hier lachten uns aus. "Schaut mal die Deutschen an, wie die aussehen" sagten sie und lachten weiter. Die Lehrer fragten mich, wie ich heiße. Ich sagte: "Mazlum" "Von wo kommst du?" "Aus Deutschland." "Kannst du Türkisch?"  "Nein!" Ich kannte nur die Wörter ja und nein,  die habe ich von meinem Vater gelernt. Ich bekam Schläge, wenn ich auf  eine Frage nicht geantwortet habe. Die Schüler lachten dann über mich. Ich wurde nervös, wusste nicht, was ich machen sollte und weinte jeden Tag. Ich sagte meinen Eltern, dass ich von den Lehrern in der Schule Ohrfeigen bekam, weil ich kein Türkisch konnte. Und die Schüler ließen mich nicht in Ruhe. Die Leute in der Türkei sagten  zu uns: "Was habt
ihr denn hier zu suchen? Geht in eure Heimat!" Ich habe oft von Schülern Schläge bekommen. Ich habe drei, vier Narben von Messerstichen an meiner Hand, die genäht werden mussten. Das passierte immer nach der Schule. Einmal  warfen sie Steine, auch in mein Gesicht. Ich habe davon Narben unter den Augen. Auch diese Wunden
mussten genäht werden. Wir sind seit schon 10 Jahre in der Türkei. Ich habe einen Beruf
erlernt, aber es gibt keine Arbeit hier. Ich habe es als Saisonhilfe in den Tourismusgebieten versucht, aber wer gibt hier einem kurdischen jungen Mann Arbeit. Einmal hatte ich da eine Anstellung, die deutschen Touristen zu führen, , die Deutschen  kamen gerne zu mir, weil ich ihre Sprache konnte, das hat aber den anderen Kollegen nicht gefallen und mein Chef bat mich zu gehen um Unstimmigkeiten aus dem Weg zu gehen, Ich bin schon 19 Jahre, muss noch Wehrdienst machen, aber ich habe Angst,
dass es Krieg gibt. Außerdem kann ich nicht so gut Türkisch. Wie soll das gehen?
Mein größter Wunsch ist, wieder zurück nach Deutschland zu kommen und einen guten Beruf  zu lernen. Ich glaube, dass ich ein Recht darauf habe. Denn ich bin in Deutschland geboren und habe vier Jahre lang die Grundschule besucht. In der Türkei habe ich viele schwere Zeiten erlebt. Das will ich nicht mehr.
Ich möchte ein neues Leben in Deutschland führen. Damals sagte man: "Wenn die Kinder 18 Jahre alt sind, können sie zurück nach Deutschland kommen."  Und ich warte auf  Deutschland.

Weil ich nichts anderes machen kann, habe ich in diesem Brief geschrieben, was wir erlebt haben.

Besonders hart traf es meinen älteren Bruder. Er ist köperbehindert, trotzdem schaffte er den Schulabschluss. Auch er konnte kein Türkisch, Er hat den Abschluss mit der Note 2,5 gemacht. Damit kann er aber nicht studieren, ohne Studiengeld zu zahlen, und das haben meine Eltern nicht. So sitzt er zuhause und fällt von einer Depression in die andere, denn
Arbeit bekommt er keine.
Nur der Hilfe unserer Unterstützer in Gerlfangen ist es zu verdanken, dass wir überhaupt in einer Schule hier unterkamen. Die Gerlfanger waren hier und haben die Lehrer unserer türkischen Schule zu einem Deutschlandbesuch eingeladen. Daraufhin kümmerten sich der Schulleiter und einige Lehrer um uns.

Ich bete zu Gott, dass ihr was für mich machen könnt, damit ich noch mal deutsche Luft atmen kann.

Viele Grüße von Mazlum an alle!

Dezember 2011


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