Milch, billiger als Wasser

Beitrag der Aktion 3.Welt Saar e.V. in VERSORGERIN #127, September 2020

Milch, billiger als Wasser

 

Der irrationale Charakter der auf Profitmaximierung ausgerichteten kapitalistischen Produktionsweise zeigt sich besonders zynisch da, wo es direkt ums Leben und Überleben geht: in der Nahrungsmittelproduktion. Ein Überblick von Klaus Blees und Ingrid Röder, Aktion 3.Welt Saar e.V..

 

 

Proteste von Milchbauern in Brüssel gegen die EU Agrarpolitik. Das Projekt »A faire Milch« musste die IG-Milch Ende Juli 2020 nach 14 Jahren einstellen. (Bild: Aktion 3.Welt Saar e.V.)

 

Exemplarisch dafür steht unter anderem die Produktion von Fleisch. In Österreich beträgt der menschliche Verzehr von Fleisch pro Kopf rund 64 Kilogramm im Jahr, in Deutschland sind es 59,5 Kilogramm. War Fleisch einst ein Luxusgut, das sich ärmere Menschen nur sonntags leisten konnten, so ist es heute Massenprodukt und Synonym für einen hohen Lebensstandard.

Aber wurde die Ernährungsqualität der Bevölkerung wirklich verbessert? In jüngster Zeit hat die industrielle Fleischproduktion deutlicher als bisher ihre Kehrseite gezeigt, insbesondere im Falle der rapiden Ausbreitung von Covid-19-Infektionen bei Arbeitern in Schlachtbetrieben, wobei Tönnies, der größte deutsche Fleischkonzern, nur die Spitze des Eisbergs markierte. Dass dort in prekären Arbeitsverhältnissen stehende »Leiharbeiter« auf engstem Raum zusammen arbeiten und wohnen, ist zwar nicht neu, wurde aber erst in dieser Situation skandalisiert – auch wenn die Verbreitung des Virus, wie sich herausstellte, nicht primär durch die beengten Verhältnisse, sondern durch die Kühlsysteme bedingt war.

 

 

 

Billigfleisch und resistente Keime

Doch ein Blick hinter die Kulissen der Massenproduktion von Fleisch offenbarte schon lange eine bedrohliche Entwicklung, die im Widerspruch zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Industrieländern steht.

Dazu braucht man nicht erst auf die zahlreichen ernährungsbedingten Krankheiten einzugehen. Man schaue sich die tödlichen Folgen der nicht nur, aber auch infolge der Massentierhaltung sich verbreitenden Antibiotikaresistenzen von Bakterien an: In Deutschland sterben jährlich etwa 15.000 Menschen und in Österreich ca. 5.000 an Krankenhaus-infektionen, was oft daraus resultiert, dass Antibiotika nicht mehr wirken.

Einer der Faktoren, die zu derart verhängnisvollen Folgen führen, ist in genau der Massenproduktion von Fleisch gegeben, die dieses Nahrungsmittel so billig und damit quasi allen jederzeit zugänglich macht. Denn wenn die Tiere in großer Zahl auf engem Raum gehalten werden, führt dies unter anderem zu bakteriellen Infektionen, die sich unter diesen Bedingungen schnell ausbreiten. Damit die Tiere dennoch »gesund« bleiben, müssen große Mengen Antibiotika gegeben werden. Dies fördert die Entwicklung resistenter Keime, die unter anderem über die Nahrungskette auch zu menschlichen Konsumenten gelangen. Massenproduktion von Fleisch ist nur unter Verzicht auf artgerechte Tierhaltung und unter massiven Qualen für die Tiere zu haben. Was vordergründig als Verbesserung erscheint, zeigt seine verhängnisvollen, oft tödlichen Konsequenzen dann aber vor allem für die von solchen Infektionen betroffenen Menschen.

Billiges Fleisch wird am Ende teuer bezahlt.

 

 

 

Proteste von Milchbauern in Brüssel gegen die EU Agrarpolitik. (Bild: Aktion 3.Welt Saar e.V.)

 

 

 

Milch billiger als Wasser

Aber nicht nur die Fleischproduktion zeitigt derartige Absurditäten. Die Milch im Supermarkt ist häufig billiger als das Wasser, das man im benachbarten Regal erwerben kann. Denn die »Gemeinsame Agrarpolitik der EU« (GAP) fördert eine Überproduktion von Milch. Dies zwingt die Bauern, ihre Milch unter den Herstellungskosten zu verkaufen – für die Molkereien und Supermärkte ein Vorteil. Es grenzt an Satire, wie diese Niedrigpreise zustande kommen: Die Bauern liefern die Milch bei den Molkereien ab, erfahren von diesen aber erst Wochen später, was sie für den Liter Milch bekommen.

Noch eine Realsatire: Kaufen Bauern patentiertes Saatgut, so dürfen sie nach der Ernte das für die neue Aussaat zurückbehaltene Saatgut nicht einfach ausbringen und für die Weiterzucht verwenden. Sie müssen vielmehr für ihr eigenes Saatgut an die Züchter – meist große Agrarkonzerne – Nachbaugebühren zahlen.

»Wachse oder weiche« – dieses Credo klingt alternativlos. Die Höfe sollen wachsen, um überleben zu können. Immer mehr Höfe werden durch Preisdumping zum Aufgeben gezwungen. Die Bauern befinden sich damit in einer ähnlichen Lage wie vom Lohndumping betroffene Arbeiter.

Nicht nur für die Bauern in der EU ist diese Agrarpolitik eine Katastrophe, sondern auch und ganz besonders für die Bauern im globalen Süden. »Deutsche Kühe weiden in Paraguay und scheißen auf die Bauern im Senegal« – so hat die Aktion 3.Welt Saar die Situation in einem Meme zusammengefasst. Die Langversion: In Paraguay in Monokulturen unter massivem Pestizideinsatz billig angebautes Soja wird in Deutschland an Milchkühe verfüttert. Um diesen Anbau zu ermöglichen und Paraguay zum viertgrößten Sojaexporteur weltweit zu machen, sind zuvor Bauern gewaltsam von ihrem Land vertrieben worden. Diese in der EU »billig« produzierten Milchüberschüsse werden zu Milchpulver und Kondensmilch verarbeitet und exportiert, zum Beispiel in den Senegal. Die Bauern dort können damit nicht konkurrieren und müssen ihre Höfe aufgeben. So schließt sich der Teufelskreis des Neoliberalismus.

 

 

 

Proteste von Milchbauern in Brüssel gegen die EU Agrarpolitik. (Bild: Aktion 3.Welt Saar e.V.)

 

 

 

Es geht auch anders

Als Gegenbewegungen zum am »Wachse oder weiche«-Dogma und am Export orientierten Österreichischen Bauernbund und Deutschen Bauernverband haben sich Milchviehhalter in Österreich zur IG-Milch und in Deutschland zum Bundesverband Deutscher Milchviehhalter (BDM) zusammen geschlossen. Grenzüberschreitend haben sie mit ähnlichen Organisationen anderer europäischer Länder das European Milk Board (EMB) gebildet. Sie fordern von der EU zum Beispiel Instrumente für eine Milchmengensteuerung, um Überschüsse zu vermeiden und damit Bauern einen fairen Preis zu garantieren. Das ist vergleichbar mit den Kämpfen von Gewerkschaften um höhere Löhne und eine bessere Vermarktung der Ware Arbeitskraft. Im Projekt »ERNA goes fair« – das Kürzel steht für »ERnährungssicherheit und NAchhaltigkeit« – bringt die Aktion 3.Welt Saar dann auch Milchbauern, Gewerkschaften und Naturschützer zusammen – Gruppen, die in der Vergangenheit wenig miteinander zu tun hatten und zwischen denen es auch Interessenskollisionen gibt.

60 % der Sojaimporte in Deutschland könnten durch vor Ort angebaute Futtererbsen und Ackerbohnen ersetzt werden, bei Reduzierung des Fleischkonsums noch mehr. Land und Saatgut sowie dessen Züchtung gehören in Bauernhand oder in öffentliches Eigentum (Commons) und nicht in die Hand von Banken und Chemiekonzernen. Wenn durch die Änderung der Besitzverhältnisse der Gewinndruck fällt, wird eher auf Ertragssicherheit sowie auf größere Vielfalt gezüchtet und nicht auf den für Konzerne profitablen Hochertrag.

Auch die Nachbaugebühren, mit denen Bauern finanziell geknechtet werden, entfallen dann.

Global betrachtet zeigt sich die Absurdidät kapitalistischer Nahrungsmittelproduktion vor allem in dem Umstand, dass Menschen hungern und an Hunger sterben – in ländlichen Regionen und in Ländern, die landwirtschaftliche Produkte exportieren! Es gibt genug Nahrungsmittel für alle. Alleine mit den in der EU und in Nordamerika weggeworfenen Lebensmitteln könnten alle Hungernden dreimal satt werden. Es ist eine Frage der Verteilung und nicht einer vermeintlichen »Überbevölkerung«. Der malthusianische Mythos der »Überbevölkerung« als Ursache von Elend wurde schon von Karl Marx scharf kritisiert, feiert aber immer wieder Auferstehung und wird in großen Teilen der Ökoszene, bis hinein in die Linke, unhinterfragt übernommen. Ebenso zeigen die vorhandenen Nahrungsmittelressourcen, dass keine Gentechnik nötig ist, um alle Menschen satt zu bekommen.

Gentechnik ist nicht nur überflüssig, sie verschlimmert die Situation. In Indien glaubten Bauern an die Versprechen der sogenannten »Grünen Revolution«, bauten Gen-Baumwolle an und kauften teuren synthetischen Dünger. Die Folgen: Verschuldung und schlechte Ernten. Laut der indischen Ökologin Vandana Shiva trieb dies 250 000 Bauern in den Suizid. Das gleiche miese Spiel wird heute in afrikanischen Ländern fortgesetzt, unter deutscher Beteiligung finanziert von der »Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika«. Die zu beobachtenden katastrophalen Folgen sind ähnlich.

Widerstandsbewegungen haben sich auch auf globaler Ebene und insbesondere im Süden entwickelt. Wichtigste Akteurin ist die internationale Landlosen- und Kleinbauernbewegung »La Via Campesina«, die sich dem Neoliberalismus und der Macht der Agrarkonzerne entgegenstellt und unter anderem Widerstand gegen die diversen Freihandelsabkommen organisiert. Diese Bewegung hat das Leitbild der »Ernährungssouveränität« geprägt. Der Begriff beschreibt das gemeinsame Aushandeln dessen, was in einer Gesellschaft produziert und verarbeitet wird, mit welchem Saatgut und wer dies wie macht. Die Aktionsformen sind vielfältig und reichen vom Aufbau kollektiver Saatgutbanken bis zu Landbesetzungen.

 

 

 

Proteste von Milchbauern in Brüssel gegen die EU Agrarpolitik. (Bild: Aktion 3.Welt Saar e.V.)

 

 

 

Fluchtursache Hunger

Verarmung und Hunger zwingen Menschen, ihre Herkunftsländer zu verlassen und gehören somit zu den Hauptfluchtursachen. Besonders zynisch ist es, diese Menschen als »Wirtschaftsflüchtlinge« zu diffamieren, erst recht, wenn man die oben genannten Gründe für die Verelendung kennt. Damit zeigt sich, wie verschiedene Politikfelder untrennbar zusammen hängen: Agrarpolitik und Flüchtlingspolitik sind zwei Seiten derselben Medaille. Der Kampf für eine andere, gerechte globale Agrarpolitik ist zugleich ein Kampf gegen Fluchtursachen.

 

 

 

Eine bessere Welt ist nicht käuflich

Der Faire Handel verspricht, die Welt durch Konsum sozial gerechter zu machen und hat jährlich ein zweistelliges Wachstum. Doch im Rausch der Wachstumskurven geraten zumeist die politischen Grundlagen aus dem Blick. Kann man eine bessere Welt wirklich kaufen, kann es einen fairen Kapitalismus geben? Genau das unterstellt der Faire Handel: Die Welt werde besser, die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen würden ein Stückchen gerechter, wenn viele kleine Menschen viele kleine und ‚gerechte‘ Käufe tun.

Es stimmt, das Leben einiger Menschen kann durch den Fairen Handel verbessert werden, was schon sehr viel ist. Dies greift aber angesichts der globalen Überlebenskrisen zu kurz. Daher wäre es an der Zeit, dass sich der Faire Handel an seine Ursprünge der Kritik an den Strukturen des Welthandels erinnert und diese weiterführt zur Kritik des Kapitalismus, dessen zerstörerische Dynamik ‚das Ganze’ bedroht.

Konterkariert wird diese Notwendigkeit durch Organisationen wie TransFair, die Produkte mit ihrem Siegel zertifizieren, die nicht den strengen Kriterien des Fairen Handels entsprechen und dann von Konzernen wie LIDL und Starbucks angeboten werden, während dieselben Firmen Gewerkschafts- und Mitarbeiterrechte mit Füßen treten. Das ist Fair-Washing, gut für deren Image und für die Einnahmen von TransFair – schlecht für die Beschäftigten.

 

 

Klaus Blees und Ingrid Röder sind Mitarbeiter der Aktion 3.Welt Saar e.V., die bundesweit arbeitet. Sie ist Teil des deutschlandweiten Bündnisses "Meine Landwirtschaft". Man kann sie einladen zu Podiumsdiskussionen.

 

 

Weiterführende Informationen:

Aktion 3.Welt Saar: Agrar & Ernährung

IG-MILCH

Bundesverband Deutscher Milchviehhalter e.V.

European Milk Board

 

Milch, billiger als Wasser - Link zum Artikel in VERSORGERIN #127, September 2020